„Wir stehen vor einem radikalen Lernprozess“

Interview zur Dynamik der Corona-Krise

In Zeiten wie diesen müsste sich Autorin Petra Bock fast schon zu Hause fühlen. Seit gut fünfundzwanzig Jahren forscht und arbeitet die promovierte Historikerin und Politikwissenschaftlerin zu tiefgreifenden Umbrüchen, Krisen und Veränderungen. Als Managementberaterin und Top Executive Coach berät sie seit Beginn des Jahrtausends Menschen und Teams in zum Teil existenziell herausfordernden Situationen. Am 4. Mai erscheint bei Droemer ihr lange erwartetes neues Buch “Der entstörte Mensch. Wie wir uns und die Welt verändern ”. Für diejenigen, die die Druckfahnen bereits lesen konnten, ist es bereits jetzt das „Buch der Stunde“.

 

 

Liebe Frau Bock, Krisen und Umbrüche sind seit mehr als 25 Jahren Ihr Metier. Schockt Sie das, was im Moment passiert?

Es bewegt mich sehr, aber es schockt mich nicht. Krisen haben eine ganz bestimmte Dynamik, die sich auch jetzt gut beobachten lässt. Als Wissenschaftlerin beruhigt es mich, die Muster klar und deutlich zu erkennen, die allen Krisen und übrigens auch allen echten Lernprozessen gemeinsam sind.

 

Welche Muster erkennen Sie wieder?
Jede Krise löst eine bestimmte innere Dynamik aus. Wir versuchen sie zunächst so lange wie möglich auszublenden oder zu bagatellisieren. Ich glaube nicht nur unsere Politiker, sondern jeder, der im Januar nicht selbst in China war, kann sich an der eigenen Nase nehmen. Es hatte für die meisten von uns die Relevanz des berühmten „Sack Reis“ der in China umfällt. Abwehr und Verneinung sind die typische Reaktion in der ersten Phase. Wir wissen aus der Forschung mit Menschen, denen von der Polizei eine Todesnachricht überbracht wird, dass sie im ersten Moment glauben, die Polizei habe sich einfach an der Tür oder mit dem Namen geirrt. Es ist wahrscheinlich ein sehr tiefer Schutzmechanismus, das schwer Bewältigbare zunächst möglichst von sich fern zu halten.

 

Was passiert danach?
Dann setzt Phase zwei ein, in der wir eine rasante Talfahrt erleben. Es zieht uns gefühlt den Boden unter den Füßen weg. Plötzlich herrscht Alarmzustand. Wir hassen es, die Kontrolle zu verlieren. Was wir gewohnt sind, löst sich in ungewöhnlicher Geschwindigkeit auf, katapultiert uns aus unseren bisherigen Komfortzonen und bringt uns in mehreren Wellen immer wieder an Punkte maximaler Instabilität. Innerlich wie äußerlich. So wie wir selbst emotional ins Trudeln geraten, kann es auch mal im Äußeren „haarig“ werden, können Lieferketten für kurze Zeit unterbrochen sein oder sich Probleme auftun, an die man vorher gar nicht gedacht hat.
Doch wer das weiß, kann sich darauf einstellen und verliert trotz Krise nicht so schnell die Fassung.

 

Dann folgt die dritte Phase?
Richtig! Und in dieser Phase aktivieren wir unsere allergrößte Stärke: erst, wenn wirklich bei uns angekommen ist, dass die alten Gewissheiten ihre Ordnung verloren haben, können wir unsere stärksten Kräfte aktivieren. Es passiert unbewusst, als ob sich ein Schalter in uns umlegen würde. Manchmal über Nacht. Alle lebenden Systeme organisieren sich auf dem Höhepunkt der innerlich erlebten Krise, die in der Regel früher einsetzt als der Höhepunkt der äußeren Krise, neu. Wir lernen, werden kreativ, improvisieren, organisieren uns und unsere Systeme neu. Aus dem ursprünglichen Chaos erschaffen wir nach und nach eine neue Ordnung.

 

Klingt, als ob man sich gar keine Sorgen mehr machen müsse.
Die Dynamik, die ich eben beschrieben habe, gilt für Systeme, die in einer Krise lernen, was das eigentlich Natürliche jedes lebenden Systems ist – vom Einzeller bis zu menschlichen Gesellschaften. Leider folgen wir immer noch einem Paradigma, das erst spät in der menschlichen Entwicklungsgeschichte entstanden ist und das uns heute fatal im Weg steht.
Ich nenne es gestörtes oder menschliche Entfaltung störendes Denken und es funktioniert wie ein algorithmisches Programm. Ich kann es in fast allen Gesprächen mit Menschen in Veränderungssituationen beobachten. Jeder kennt es. Je länger die Ausnahmesituation andauert, desto stärker werden wir es erleben können. Das ist das eigentlich gefährliche an jeder Krise. Wir sind in der Lage, uns aus einem knallharten Konkurrenzdenken heraus selbst und andere mit ganz bestimmten Mechanismen zu stören. Auch jetzt kann ich den Beginn dieser Dynamik deutlich sehen. Zum Beispiel wenn ich beobachte, mit welchem Neid Menschen darauf reagieren, wenn andere jetzt Hilfen oder Erleichterungen erhalten sollen.
Jeder hat Angst, dass ihm etwas weggenommen werden könnte und der andere Vorteile bekommt.

 

Wo liegen die Gefahren?
Stress löst bei Menschen drei Urimpulse aus: Aggression, Flucht oder Totstellen. Auf dem Höhepunkt gefühlter Instabilität aktivieren Menschen leider zu häufig ein Überlebensprogramm, das auch in guten Phasen latent unsere Entscheidungen auf fundamentaler Ebene beeinflusst. Unser Denken und unsere Wahrnehmung werden zu eng.
Es ist, als ob wir Scheuklappen aufsetzen würden. Wir suchen nach einfachen Ursachen, halten Ausschau nach Schuldigen – wie zum Beispiel der lächerliche Streit zwischen Trump und der chinesischen Regierung um die Herkunft des Virus zeigt. Wir wollen unsere Aggressionen los werden, uns das Unerklärliche erklären und um jeden Preis Sicherheit und Kontrolle wiedergewinnen. Und zwar sofort.


Was passiert dann?
Wir setzen uns und andere unter Druck, wollen sehr schnell einfache Entscheidungen treffen und begehen damit in der heutigen Zeit unverzeihliche Fehler: Wir übersehen die Komplexität, die Probleme heute haben. Dies hält uns die schwer berechenbare Dynamik, in der sich der Corona-Virus verbreitet, geradezu vorbildlich vor Augen. Hält eine Krise länger an, fangen wir an, uns um Ressourcen zu streiten – bereits jetzt beginnt in Deutschland der Streit darüber, wer jetzt wie viel Hilfe bekommt. Jeder schreit hier und niemand fragt sich mehr, welche Folgen das alles für unsere Zukunft hat. Wir hamstern und haben Angst, dass andere hamstern.
Wir fordern harte Bestrafungen. Auch Menschen, die sonst gelassen und ausgeglichen sind, sympathisieren plötzlich mit autoritären Maßnahmen. Angst, Druck, Misstrauen und die Forderung, sich selbst und alle seine Bedürfnisse zu verleugnen, nehmen zu. Wir wollen dann alle bestrafen, die irgendwie aus der Reihe tanzen, denken, es gebe nur eine einzige richtige Haltung. Das ist nicht nur verdammt autoritär und belehrend, sondern führt dazu, dass wir beginnen, statt miteinander gegeneinander zu kämpfen. Passiert das im weltweiten Maßstab, dann könnte die „Krise danach“ noch stärkere Auswirkungen auf die Welt haben als die Corona-Krise selbst.

 

Was schlagen Sie vor?
Wir müssen uns in Politik und Gesellschaft davor hüten, in einen radikalen Überlebensmodus umzuschalten – auch dann, wenn wir immer schrecklichere Bilder und Nachrichten zu sehen bekommen. Wir müssen uns zusammenreißen. Es geht bei aller Dramatik der Situation nicht nur um Leben oder Tod. Es geht ebenso um Leben und seine Qualität, um die Stabilität lebenswichtiger Systeme, um Vertrauen, und Fairness allen Menschen gegenüber. Es ist eine nicht mehr lange haltbare Situation, Menschen zu verbieten, ihren Beruf auszuüben, für sich zu sorgen und damit mündige Menschen mangels komplexerer Strategien immer mehr in ernste Existenzängste zu treiben. Im Störungsmodus kennen wir nur „Entweder-Oder“.

 

Und wenn wir entstört denken?
Entstört sind wir in der Lage, die Dinge gleichzeitig zu denken und zu bewältigen. Wir brauchen einen sensibel eingestellten Radar für einseitige Lösungen, für Aggressionen, ebenso für Verdrängungs- und Verleugnungstendenzen, die, wie gesagt, typisch sind für große psychoemotionale Herausforderungen. Bei uns selbst wie bei anderen. Je länger die Krise andauert und je länger wir drastische Maßnahmen durchziehen, desto mehr ist der soziale Frieden in Gefahr. Ich glaube es ist jetzt die beste Zeit, die es jemals gab, sich als Individuum und als Gesellschaft als ebenso zivilisiert wie erwachsen zu erweisen.

 

Viele kritisieren, die Politik sei zu langsam, man hätte sehr viel früher handeln sollen

Ja, es gibt im Moment geradezu einen Wettbewerb, wer am längsten „geschlafen“ habe und dadurch den höchsten Preis zu zahlen hätte. Aber das führt uns nicht weiter. Politiker sind auch nur Menschen. Sie durchlaufen den gleichen Prozess der anfänglichen Abwehr und Verneinung wie wir alle. Hagelt es jetzt Kritik, machen wir es Entscheidern nur noch schwerer.
Wir müssen uns davon verabschieden, dass es den einen starken Mann und die eine starke Frau gebe, die unsere Probleme aus dem Stand lösen könnte. Das war schon früher eine Illusion und ist heute geradezu lächerlich.


Aber das autoritäre China scheint die Krise im Moment am besten zu bewältigen
Ich glaube, wir müssen hier sehr vorsichtig sein. China hat einen Weg gewählt, der im Moment gut funktioniert und von Experten als vorbildlich angesehen wird. Wir wissen aber noch nicht, ob er langfristig funktioniert und sollten den Blick weiten, statt uns von einer einzigen Lösung geradezu paralysieren zu lassen. China ein völlig anderes Land als Deutschland oder Europa.
Politisch, wirtschaftlich und strukturell. Eine Region in einer riesigen Volkswirtschaft China abzuschotten ist etwas anderes als das ganze Land und ganz Europa lahmzulegen, wie wir es im Moment tun.


Welche Strategie finden Sie besser?
Ich habe im Moment Vertrauen in die Meinungen unserer wissenschaftlichen Experten.
Virologen regieren aber nicht unser Land und ihre Brille ist im Moment zwar entscheidend, aber nicht die einzige, auf die es ankommen kann. Ich erwarte von uns als mündigen Bürgerinnen und Bürgern und unseren politischen Entscheidern, dass sie, wenn es Zeit dazu ist, Augenmaß beweisen, eine solide Güterabwägung betreiben und sich nicht auf angeblich alternativlose Strategien fixieren. Geschichte lehrt uns: Die Macht, die Menschen in Krisen haben können, ist verführerisch. Und einmal geglaubte Wahrheiten werden schnell zur Doktrin. Die Krise darf nicht der Auslöser für einen gigantischen Rückwärtsgang werden.


Wie schätzen Sie die historische Bedeutung dieser Krise ein?
Epidemien sind in der Geschichte der Menschheit nichts Neues. Was uns diese Krise aber zeigt ist wie komplex die Welt des 21. Jahrhundert ist und wie fragil die Systeme sind, an deren Stabilität wir geglaubt haben. Wir stehen vor einem gewaltigen Innovationsschub. Menschlich technisch, wirtschaftlich und politisch. Es wird eine Herausforderung an die menschliche Imaginationskraft.

 

Bundespräsident Steinmeier sagte, die Welt werde nach der Krise eine andere sein. Wie ist Ihre Prognose?
Ich denke, er hat recht, aber es liegt nicht nur an dieser einen Krise, sondern an der Vielzahl, der Dynamik und den weitreichenden Auswirkungen von Krisen in unserer Zeit. Wir stehen vor einem radikalen Lernprozess. Die psychoemotionale und mentale Verfassung unserer Spezies spielt heute eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, sehr komplexe Krisen, von denen Corona nur eine einzige ist, zu bewältigen. Wir haben das bisher stark vernachlässigt.
Aber wir brauchen nach dem technischen dringend einen menschlichen Fortschritt und völlig neue Kompetenzen und Strategien. Veränderungs- und Krisenbewältigungskompetenz gehören zu den wichtigsten Lernfeldern, die sich die Menschheit heute erschließen muss.
Denn die großen Aufgaben unserer Zeit, die Klimaerhitzung, die weltweite Migration und die Alterung unserer Gesellschaft wollen ebenso bewältigt werden. Wir werden die gleichen und doch andere sein, wenn wir diese Krise bewältigt haben.


Liebe Petra Bock, vielen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Julia Meyn. München/Berlin am 25. März 2020.

Foto: Constanze Wild